Pensionistin in Wien | Interview geführt von Rayen Cornejo Torres am 30. Mai 2023 in Wien | Transkribiert von Rayen Cornejo Torres, mit Bearbeitungen von Andrés Peña und Miguel Peña | Übersetzung aus dem Spanischen von Berthold Molden
Ich lebe schon seit 50 Jahren in Österreich, das ist also praktisch ein ganzes Leben. Ich habe länger in Österreich gelebt als in Chile. Ich bin 88 Jahre alt und kam mit 38 hierher. Geboren bin ich in Talca, eigentlich in Maule, das ist ein kleines Örtchen in der Nähe von Talca. Mein Vater hatte einen Weingarten. Eines Tages fuhren sie für ein Wochenende weg und ich wurde geboren. Also kam ich letztlich nicht in einer großen Stadt, sondern in einem kleinen Örtchen namens Maule auf die Welt. Später, ab meinem 12. Lebensjahr, lebte ich in Santiago. Meine Eltern trennten sich, aber erhielten eine gute Beziehung aufrecht. So begann ich, im Gymnasium Nr. 2 in Santiago zur Schule zu gehen. Dann studierte ich für meinen Beruf. Ich bin medizinische Technikerin. Und weil ich zum Glück meine Dokumente mitgebracht hatte, konnte ich hier in meinem Beruf arbeiten. [In Chile] hatten wir beiderseits, von meinem Mann her und meinerseits, ein starkes Familienleben. Wir hatten schon drei Kinder. Ich arbeitete im Hospital Salvador, aber als Mitarbeiterin der Universidad de Chile, der Abteilung von Professor Tisné [Anm.: der bekannte Gynäkologe Luis Tisné Brousse], der mich sehr schätzte und mir im Augenblick des Staatsstreichs helfen wollte, als ich ihm mitteilte, dass wir Chile verlassen würden. Er sagte mir: „Aber Sie werden in zwei Jahren zurückkehren, also gebe ich Ihnen nur zwei Jahre Urlaub.“ Und das sollte mir dann so sehr schaden, denn später fehlten mir diese zwei Jahre für meinen chilenischen Pensionsanspruch. Aber es war eine angenehme Arbeit, mit netten Kollegen, bis zum Tag des Putschs. Und das Leben war, wie ich sagte, sehr auf die Familie ausgerichtet, wir trafen uns oft und machten Ausflüge. […] Meine Kinder waren zum Zeitpunkt des Putschs 13, zwölf und acht Jahre alt. […] Die Unsicherheit und Probleme hatten mit meinem Mann und der Politik zu tun, denn zweimal warfen sie Bomben vor die Eingangstür unseres Wohnhauses. Vor [dem Putsch], vorher. […] [Mein Mann war aktiv] in der Sozialistischen Partei, er war Mitglied, arbeitete aber auch in der ECA [Anm.: Empresa de Comercio Agrícola, später Empresa de Abastecimiento de Zonas Aisladas, ein Staatsbetrieb zur Lebensmittelversorgung der Bevölkerung].
Natürlich [erinnere ich mich an den 11. September]! Ich war in der Arbeit. Es war ein normaler Arbeitstag, ich ging in die Arbeit, die Kinder in die Schule. Als wir die Nachrichten hörten, weil jemand im Labor das Radio aufgedreht hatte… und es war der Putsch. Da ruft mich mein Mann an und sagt mir: „Ich hole die Kinder von der Schule ab und dann kommen wir dich abholen und ich bringe dich zu deiner Mutter.“ Und so kam er uns holen und ließ uns dort. Später kehrten wir für ein paar Tage nachhause zurück, aber es war eine sehr schlimme Situation, also wirklich sehr schlimm. Zum Glück war er gerade da, als sie uns eine Brandbombe hereinwarfen. Zum Glück, denn er tötete die Bombe mit einer Decke ab und es war dann kein Problem. [In den folgenden Tagen veränderte sich das Familienleben] total, weil die Kinder praktisch nicht mehr in die Schule konnten. Und mein Mann haute ab, weil er auf den Verfolgungslisten stand. Er ging also einige Tage zu meiner Schwiegermutter, seiner Mutter. Manchmal wusste ich nicht, wo er sich befand und blieb mit den Kindern allein zuhause. In der Nacht hörte ich die Hubschrauber und alles, was sich abspielte. Das heißt, auch nächtliche Drohanrufe. Bis zu dem Moment, wo er das Glück hatte, in der österreichischen Botschaft Asyl zu bekommen, auf dem Konsulat. Und da wurde es problematisch, mit ihm zu kommunizieren, einander zu sehen, voneinander zu wissen. Und man wusste ziemlich wenig, bis er erfuhr, dass er das Land verlassen konnte. Er war untergetaucht gewesen, bis die Vicaría de la Solidaridad – das war die Organisation, die ihm half – ihn holten und direkt in die Botschaft brachten. Aber von da an sahen wir einander nicht mehr bis zu dem Augenblick der Reise nach Österreich.