Ausstellung / Javiera Montenegro 9/12
[Meine Gewohnheiten und Denkweise] haben sich sehr geändert. Denn ich habe das Gefühl, dass ich gut in ein strukturierteres System passe, das kann mit meiner Art zu sein zu tun haben, dass ich sehr für Pünktlichkeit bin. […] Und wirklich, die Struktur, die Sauberkeit der Stadt… Ich weiß, ich habe in Valparaíso gelebt und es hat mir gefallen… Ich liebe Valparaíso und ich bin froh, dort meine Universitätsjahre verbracht zu haben, aber als ich dann die letzten Male nach Chile zurückkam und nach Valparaíso fuhr… und der Geruch nach Urin und alles und der schmutzige Boden… die Graffiti, die einander schon überdeckten und keinen Sinn mehr hatten… […] Das gefiel mir schon nicht mehr. […] Auch meine Familie hat mir das klargemacht, denn ich sage die Dinge sehr, sehr offen, weil ich ehrlich bin und manchmal nicht viel Feingefühl habe, wenn ich die Dinge anspreche, da habe ich beim letzten Mal Gefühle verletzt, als ich meine Meinung zu bestimmten Sachen sagte. […] Und das hat sich vielleicht durch mein Leben hier verstärkt. […] Und das ließ mich meine Familie wissen, als ich die letzten Male dort war, denn sie sagten mir: „Hör´ mal, du hast dich verändert, du hast dich verändert.“ Aber so etwas passiert, so wie sie sich auch verändert haben oder […] bei ihren Gewohnheiten bleiben […]. Sie können nicht verlangen, dass ich nicht verändere, wenn ich hier zehn, zwölf Jahre lebe. [Meine Chile-Reisen] vor Corona waren Familientreffen: Das waren Feste, also die Idee, dass Javi kommt! Und für mich ging es im Grunde darum, zu meinen Eltern zu kommen, dort zu sein, das Höchstmaß an Liebe zu empfangen und ihnen zu geben, uns quasi ein bisschen zu regenerieren. Und Familienfeste. Am Wochenende kamen die Onkel und Tanten, kamen die Großeltern, was weiß ich […]. Dann kamen mich meine Eltern besuchen. Sie kamen, als ich 2013 heiratete, konnten Österreich sehen und waren auch fasziniert: „Oh, wie sauber, wie ordentlich!“ Alles pünktlich und so. Sie waren richtig beeindruckt. Und dann kam meine Mama, sie konnte nur noch einmal kommen, als Fernando geboren wurde, da kam sie, um mir zu helfen in der Wochenbettperiode. Und danach reiste ich schon immer mit meinem Mann und jetzt fahren wir zu dritt nach Chile. Sie sind für mich mein Energieladegerät und es ist für mich die Möglichkeit, dass mein Sohn Verbindungen zu meiner Familie aufbaut. Auf nationaler Ebene war der größte Eindruck, nach dem Ende von Corona zurückzukommen und nach der Explosion [Anm.: Soziale Explosion (estallido social) ist die chilenische Bezeichnung für die sozialen Proteste in Chile 2019], also als ich von uns […] im Ort San Felipe, einer sehr für sich gelegene Stadt, nach Valparaíso zurückkam […], da sah ich, dass Vapo verfällt, also es war sehr, sehr, sehr, sehr zerstört […].
Das hat mich beeindruckt, hat mich schockiert [den Unterschied] zu sehen: vor der Explosion, nach der Explosion und Corona, und nach der Einwanderungswelle. Dieses Mal habe ich die großen Städte vermieden. Ich fuhr nicht nach Santiago, das machte mir Angst. Und auf politischer Ebene […] war es sehr traurig […], als würde sich das nie ändern. […] Das wurde oft wiederholt in meinem sozialen Kreis in Chile, diese Enttäuschung, diese Frustration… und Wut.
Es ist schwer [die chilenischen Spuren in Wien zu benennen]. Ich glaube, das symbolisch Wichtigste, das ich auf internationaler Ebene erfahren habe, war die Spur, den der Diskurs von Lastesis hinterlassen hat [Anm.: Lastesis sind ein chilenisches feministisches Kollektiv, das seit seiner Gründung 2017 mit zahlreichen Performances großen Einfluss auf die globale feministische Bewegung hat, unter anderem mit der Performance „El violador en tu camino“ („Der Vergewaltiger auf deinem Weg“)]. Für mich ist das ein sehr starkes kulturelles Erbe und es wurde hier sehr geschätzt und angenommen. Diese Demonstration war riesig, der Diskurs war klar, die Übersetzung war perfekt, und es war etwas aus feministischem chilenischem Geist Hervorgegangenes. Unglaublich! Und das sehe ich als einen sehr symbolischen Akt, der Chile repräsentiert. [Es ist wichtig, dass Migranten] lernen, sich wertzuschätzen, wie sie sind und als was sie sind, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen. Ich sage immer [meinen Schülern]: „Ich bin ja auch Einwanderin, ich komme auch von der anderen Seite, in Chile sind wir alle klein, in Chile reden wir ich weiß nicht was…“ Aber das macht uns einmalig. Ihnen diese Identitätswerkzeuge zu geben, damit glaube ich etwas ausrichten zu können durch meine Erfahrung als Einwanderin in meinem nahen Umfeld, also meinen Schülern in der Schule und […] meinem Sohn vermittle ich das auch. Wenn ich in Chile bin, vermittle ich das auch meinem Neffen, was nicht leicht ist. Aber es ist immer eine Option. Die Welt ist sehr groß und man kann sich anpassen, wenn man will. […] Die Erfahrung weiterzugeben halte ich für wichtig. […] Manchmal sagt mir das meine kleine Schwester, die sich auch unsicher fühlt: „Ich bewundere dich so […]. Du hast alles zurückgelassen für etwas dir Unbekanntes, du musstest eine neue Sprache lernen, dich in ein System integrieren, von null an wieder neue Freunde finden, dir dein Nest bauen und Tag für Tag dafür kämpfen.“ […] Ich glaube, dass man dieses Erleben am besten mündlich weitergeben kann und bei den Einwanderern ein Bewusstsein schaffen kann, und bei denen, die sich schämen […]. Nein, man ist, wie man ist, und wird sich nicht ändern. Auch wenn ich 50 Jahre hier lebe, werde ich weiter eine Chilenin sein. Ich glaube, hier kann man etwas beitragen für die neuen Generationen, in dem man diesen Diskurs der Akzeptanz eröffnet.
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