Ausstellung / Carla Bobadilla 5/18

Ich verließ Chile 2002. Bevor ich abreiste, […] gab es viele Proteste und ich machte bei allen mit. Hier in Österreich beruhigte ich mich ein bisschen, denn ich musste mich auf die Arbeit und aufs Geld verdienen konzentrieren, während ich in Chile… naja, ich wusste sehr gut, wie man sich vor Tränengasbomben schützt, und ich liebte es, auf die Straße zu gehen, anzupacken. So nahm ich an allen möglichen Demonstrationen teil, war Aktivistin. Denn wenn wir uns [nun] auch in einer Demokratie befanden, blieb die Situation doch kompli­ziert. Bevor ich Matthias kennen­lernte, wäre ich nach Frankreich gegangen, oder nach Spanien. Öster­reich hätte ich niemals gewählt. Ich kam wegen Matthias nach Öster­reich, der auch kein Öster­reicher ist, sondern aus Deutschland kommt. Er lebte schon viele Jahre hier und hatte ein Freundesnetz, ein soziales Netzwerk, das sehr wichtig war. […] Tatsächlich waren die ersten Jahre für mich ziemlich schwierig, denn im Jahr 2000 war Österreich ganz anders als jetzt. Es war grau, es passierte nichts. Es gab keine anderen chile­nischen Künstler, Künstlerinnen. Oder wenn es sie gab, dann hatten sie nicht das intellektuelle Niveau, auf dem jetzt viele Künstler arbeiten, auf dem auch ich arbeite. Die Wahrheit ist, dass ich ohne Vorfreude auf die öster­reichische Gesellschaft hierherkam. Ich kam an mit Vorfreude auf die Liebe und das Leben als Paar. Ich freute mich sehr darauf, Deutsch zu lernen. Literatur auf Deutsch zu lesen, Walter Benjamin in der Original­sprache lesen zu können. […] Deshalb lernte ich so schnell Deutsch. In drei Monaten. […] Das war auch hart, denn ich hatte in Chile mein Studium abge­schlos­sen und da fühlst du dich schon super toll mit deinem Hochschulabschluss… und dann musst du in die Volks­hochschule zum Deutschkurs und findest dich mit Leuten wieder, die teils Analphabeten sind, mit denen du keine Gesprächsthemen hast, weil sie nicht so eine Ausbildung genießen konnten wie ich. Das war der erste superharte Schlag, mit einem Überich zu kommen und zu sagen: „Ok, Mist, als erstes muss ich Deutsch lernen, sonst geht gar nichts.“ […] Deutsch war quasi meine Lebensrettung, das heißt: Wenn ich nicht perfekt Deutsch lernen würde, dann würde ich untergehen – denn ich wollte der österreichischen Gesellschaft angehören. Ich kam hierher ohne Visum, denn wir hatten drüben geheiratet. […]
[Ich habe bis heute keine österreichische Staats­bürgerschaft], weil wir immer in Katastrophen dachten und sagten: „Wird einmal ein Krieg ausbrechen?“ Und wir wollten die Möglichkeit haben, nach Chile zurückzukehren. Die Mädchen haben beide Pässe. Matthias hat den österreichischen Pass, ich den chilenischen. Heute hätte ich gerne beide Pässe. Denn letztes Jahr, da haben wir es erlebt. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, prüften wir als erstes, wieviel Geld wir auf der Bank haben, wann wir abreisen könnten. Das heißt, einen Fluchtplan zu haben. Denn ich fühle mich hier nicht sicher. Ich habe mich in Wahrheit nie sicher gefühlt. Ich denke immer, es wird ein Krieg ausbrechen. [Lacht.]

Im ersten Jahr hatten wir kaum Geld. Nachdem ich drei Monate von seinem Ersparten gelebt hatte, sagte ich: „Nein, das halte ich nicht mehr aus.“ Also begann ich, auf Kinder aufzupassen. Aber das entglitt mir, denn anstatt auf eines oder zwei aufzupassen, passte ich auf fünf auf, mitten im Winter, bei Temperaturen von 17, 18, 20 Grad minus. Und es war so, dass die Mütter beim Abholen nicht sagten: „Hey, Carla, kommen Sie rein! Trinken sie einen Kaffee, einen Tee!“ So wie wir das tun würden. Sie sagten: „Ach, der Bub hat nicht gut ge­schla­fen, er braucht frische Luft.“ Und sie übergaben ihn mir auf der Türschwelle. Und ich mit einem zwei Millimeter dicken Mantel, ganz erfroren. Mit einge­frore­nen Füßen, Knien, Händen. Mit einge­frorenem Gesicht. So zog ich mit den Kindern über einen Friedhof irgendwo im 13. Bezirk. Ich nahm zehn Kilo ab wegen der Kälte. [Lacht.] Aber ich verdiente Geld. […] Und das stärkte auch mein Selbst­bewusst­sein.
Die Österreicher sind so: Zuerst studieren sie dich und wenn sie dich gut studiert haben, sagen sie: „Gut, die erfüllt alle Kriterien, dieser Person kann man ver­trau­en.“ Aber das Gute daran ist, dass, wenn du einmal alle Kriterien erfüllen kannst… und das sind so zehn oder 15… dann sagen sie: „Mit dieser Person kann man zu tun haben.“ Und dann… sagen wir es mit einem pater­nalis­ti­schen Ausdruck, aber in sehr, sehr positivem Sinne: Sie übernehmen gewissermaßen eine Paten­schaft für dich. Sie nehmen dich auf und beginnen, dir Arbeit anzubieten. Sie laden dich hier und dort ein, tun etwas für dich, bieten dir Dinge an. In diesem Sinne war es schwer für mich in den ersten Monaten, den ersten Jahren. Sogar jetzt noch, wenn ich jemanden erstmals kennenlerne, sage ich gleich: „Lass uns zusammenarbeiten!“ Und die Leute, ich sage dir: Sie erschrecken. Also weiß ich jetzt schon: „Ok, die Leute müssen erst feststellen, wer ich bin, und dann werden sie mich schon fragen, ob wir was zusammen machen wollen.“
Ich habe sozusagen gelernt zuzulassen, dass die Leute mich sehen. Zuzulassen, dass die Leute feststellen, wer ich bin, denn wenn sie mich fragen, dann weiß ich schon, ich kann alles verlangen, was ich will. Alle rassistischen Situationen, die ich in den ersten Jahren erlebt habe, waren normalerweise mit Personen, die quasi nicht ein hohes Bildungsniveau hatten. Sagen wir, immer wenn ich mich in intellektuellen oder akade­mi­schen Kreisen bewegte, […] fühlte ich keinerlei Ab­leh­nung oder Vorurteil, im Gegenteil: Die Leute waren sehr interessiert zu erfahren, wer ich bin und woher ich komme. Aus heutiger Sicht könnte man das auch als positiven Rassismus sehen […], aber damals empfand ich das nicht so. […] Die Ablehnung empfand ich eher in alltäglichen Belangen, zum Beispiel beim Einkaufen im Supermarkt, beim Einsteigen in die U-Bahn, beim Erledigen von Papierkram, beim Arzt […]. Da gab es schon Situation, da sagte ich: „Pfff, wie wenig diese Leute gelesen haben!“ Wie wenig Ahnung sie haben, was in der Welt vorgeht.
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