Ausstellung / Alicia Luna 5/18

„Alicia, in Santiago wird geputscht!“ Es klopft an der Tür, die Polizei. Sie kamen, um, mich zu holen, sie führten mich vor einer Maschinenpistole durch den Ort, die Arme hinter dem Rücken, vorne weg durch das ganze Zentrum von Curacautín, vor einer Maschinenpistole, bis zum Gouverneursgebäude. Die Leute kamen aus ihren Häusern und protestierten. Und da sagt [der Polizeimayor] zu mir: „Gehen Sie und sagen Sie Ihren Leuten, die sie bewaffnet haben, sie sollen kommen und diese herausgeben.“ Und ich sagte ihm: „Wir haben keine Waffen, Sie sind es, die Waffenlager haben, nicht wir.“ Da sagt er mir: „Wenn Sie sie mir zeigen, dann nehme ich sie ihnen weg. Gehen wir gemeinsam!“ Darauf ich zu ihm: „Ich sage Ihnen, wo sie sind.“ Und wir gingen dorthin, zu Patria und Libertad [Anm.: rechtsradikale paramilitärische Gruppe, die sich brutal am Putsch beteiligte]. Und die Leute von Patria und Libertad mussten die Waffen herausrücken. Nein, ich habe die letzte Rede [Allendes] nicht gehört… Mein Vater kam ins Gouverneursgebäude und sagte mir: „Was mache ich mit all den Dokumenten?“ Ich sage ihm: „Papa, verbrenne sie alle, verstecke die revolutionären Platten und verbrenne alles, was du findest.“ Denn ich hatte alle Dokumente in einem Möbelstück. „Brich die Möbel auf, hole [die Dokumente] heraus und verbrenne sie.“ […] Meine Mutter, die immer gegen alles war, protestierte, man werde so das Haus abfackeln, mit der Dokumentenverbrennerei. Alles wurde bis zum 14. übergeben, mir wurde gesagt, dass ich mich sofort in meinem Haus zur Verfügung der Carabineros, zu halten habe. Am 16. kamen sie, mich zu holen. Zu verhaften. Ich sagte: „Lassen Sie mich was anziehen!“ Ich würde keinen Widerstand leisten, mit all den Maschinenpistolen, meine Mutter verängstigt, mein Vater nicht da. „Ich werde keinen Widerstand leisten gegen die Verhaftung.“ Naja, sie nahmen mich in einem Auto mit, der Umgang war schon ein anderer, der Leutnant war ein anderer und der Major ebenfalls. Da sagte ich zu ihnen: „Schauen Sie, ich habe Sie nie schlecht behandelt, also bitte seien Sie respektvoller zu mir.“ Und wie sie da einlenkten! Naja, als man alle meine Daten aufgenommen hatte, betrat ich den Hof. Ich war die einzige Frau. Aber sie dachten, ich wüsste mit einer Waffe umzugehen… Nein, ich konnte das gar nicht, bis heute habe ich nie eine Waffe in die Hand genommen. Überzeugung ja, aber Waffen nein. Das war meine Art. Nun gut, ich verließ Curacautín Richtung Valdivia, mit einem Erschießungsbefehl. Drei Genossen. Ein kommunistischer Professor, Ladrón de Guevara [ebenfalls ein kommunistischer Genosse] und ich. Ich wollte nicht unterschreiben. „Nein, ich unterschreibe nicht, zuerst muss ich mich verteidigen, ich habe kein Verbrechen begangen.“ Man sagte mir: „Na, damit bringen sie alle hier um.“ Ich war die einzige Unverheiratete, und Guevara. Alle waren Familienväter, Leute, die kaum lesen und schreiben konnten, lebenslange soziale Aktivisten. Also unterschrieb ich. Ich unterschrieb meinen Erschießungsbefehl. So um zwei Uhr nachmittags fuhren wir ab. Zur gleichen Zeit kam mein Vater zum Gefängnis, um mir die Jause zu bringen. Dann kam der Militäranwalt und begann uns im Hof zu verhören. Während des Verhörs [Wenn sie vom politischen Aktivismus sprachen], sagten alle „ich war“. Ich sagte: „Ich bin. Ich bin Sozialistin. Ich war Sozialistin. Ich bin Sozialistin,“ sagte ich. „Wissen Sie, wohin Sie unterwegs sind?“ fragte er mich. „Ja, weiß ich,“ sagte ich, bereits mit einem geschwollenen Auge. „Und so werden Sie sterben? Von dieser Art sind Sie?“ „Ja, von dieser Art bin ich,“ sagte ich ihm. „Meinen Glückwunsch, so verteidigt man die Ideale, habt ihr gehört, ihr beschissenen Idioten.“ „Lasst sie eine Dusche nehmen“, sagte er zu dem Rekruten. Ich fragte mich „Was werden Sie mir antun?“ Und ich duschte mich mit kaltem Wasser, aber ich glaube, das war die herrlichste Dusche meines Lebens. Und ich habe es nie vergessen, er gab mir ein Handtuch, so weiß… Es war klein, aber das Handtuch kam mir so weiß und herrlich vor. Na, ich zog mich an und trat hinaus, der Militäranwalt gab mir eine Tasse Tee. Also, eines Nachmittags kam der Ober­kom­man­dant: „Welche ist die politische Gefangene?“ Und sie holten mich aus der Zelle und brachten mich auf den Hof. „Sie erkennen an, dass Sie politischer Häftling sind?“ „Ja, ich erkenne an, dass ich politischer Häftling bin.“ „Aber sie sind Lehrerin“, sagte er mir. „Ja, ich bin Lehrerin.“ Der Sozialwissenschaften. „Und wo haben Sie studiert?“ „An der Universidad de Chile de Temuco.“ Und er antwortet mir, dass sei ein Marxisten-Nest! „Aber ich war in diesem Nest, Sie haben es nur von außen betrachtet.“ Er gab mir eine Ohrfeige. „Mit diesen Leuten kann man nichts machen,“ sagte er. Er machte kehrt und ging und der Militär­anwalt sagt mir: „Fräulein, wie sind Sie denn auf das gekommen? Ich habe Sie verteidigt, auch wenn Sie das nicht glauben, aber ich habe Sie sehr verteidigt, andernfalls wären Sie nicht mehr am Leben – und jetzt das!“, sagte er mir. Mir war es egal […], ich wusste, dass sie mich bald töten würden. „Sie haben eine Waffe, es ist für mich sehr schwierig, denn Sie besitzen eine sehr gefährliche Waffe.“ „Ich habe nie etwas mit Waffen zu tun gehabt.“ „Doch, sie DENKEN [haben Über­zeu­gun­gen] und das ist das Gefährlichste überhaupt. […] Ich empfehle Ihnen, das Land zu verlassen,“ sagte er mir. Naja, das war die Unterhaltung, danach wurde ich entlassen, sie gaben mir Hausarrest. Das war Anfang Oktober, unter Hausarrest. Die Woche darauf verlegten sie mich ins Gefängnis von Curacautín, ich war ich bis zum 15. Dezember unter Arrest. Dieses Haus, von dem ich dir erzählt habe… das ich immer besitzen wollte … und das ich errichten ließ – dieses Haus wurde mein Gefängnis.

Am 17. Dezember des Jahres 1973 verkündete der Militärstaatsanwalt uns neun aus meiner Gruppe und anderen den Freispruch. Das bedeutete, das bei uns keine Straftat vorlag und wir nachhause und an unsere Arbeitsplätze, in ein normales Leben, zurückkehren konnten. Dennoch ließ uns der Mayor der Carabineros unter Hausarrest. Ich war zuhause immer unter Arrest, die ganze Zeit in Curacautín. Schon um sechs Uhr früh musste ich [mich melden] und dann bis um neun Uhr abends. Es gab eine dauernde Kontrolle vor der Tür, wer ein- und ausging, das war vielleicht das Lästigste, denn darunter litt meine ganze Familie.

Wegen der Familie [war es für mich damals so wichtig, in Chile zu bleiben], weil ich glaubte, ich würde ihnen fehlen. Weil ich dachte: „Nein, das wird nicht so lange dauern.“ Obwohl mein Vater mir sagte: „Tochter, das wird lange dauern, das ist nicht wie die anderen Verbannungen, die CIA ist hier verwickelt, die CIA wird nicht ruhen.“ Aber nein, ich glaubte ihm nicht ganz. Doch in dem Augenblick sagte der Militärstaatsanwalt: „Ich kann Ihnen die interne Verbannung in ein Exil verwandeln. Entscheiden Sie sich! Ich gebe Ihnen fünf Minuten, um darüber nachzudenken.“ Und ging hinaus. Da waren alle meine Genossen, Familienväter, arbeitsame und bescheidene Leute. Ich war die einzige Frau in dieser Gruppe. „Und?“ sagt mir der Militärstaatsanwalt [als er zurückkommt]. „Ich gehe,“ sagte ich ihm, „wenn Sie mir die Erlaubnis geben, dann gehe ich.“ „Ja, ich bin ein Mann meines Worts. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis.“ Er händigte mir die Genehmigung aus. Die anderen Genossen blieben, sie hatten Familie, sie blieben noch sechs Monate in Haft. Und ich sagte ihnen noch: „Was immer noch kommt, sagt, dass ich die Schuldige bin.“ […] Ich hatte ein Monat, um das Land zu verlassen, und es war Ende April. […]

Ich verließ [das Land] am 25. Juni 1974. Kannst du dir eine immense Traurigkeit vorstellen…? Also, ich hatte nie daran gedacht, das Land zu verlassen. […] Also, schon, aber nicht unter diesen Bedingungen. Ohne irgendjemanden zu kennen. Ich hatte einen Brief dabei an eine Frau, die Schwester eines Nachbarn [mit der Bitte], dass mich die Frau bei sich aufnehmen solle. Es war ein Leben ohne Zukunft, dass ein Leben im Moment. Aber was würde morgen passieren? Das interessierte uns nicht, wir lebten nur im Moment. Zu vergessen… vergessen zu wollen… aber das ist sehr schwierig. Einmal besuchten wir ein Konzert, an einem sehr schönen Ort in [Allen] und da sah ich zum ersten Mal Mercedes Sosa singen. Atahualpa Yupanqui! Mercedes Sosa! Es war eine Mondnacht, die Sänger alle dieses Stils, auf einem Platz in einem Ort namens Allen. Es war berührend.

Und [ein anderer Chilene, der einen Besuch bei seiner Familie in der Heimat riskiert hatte] sagt: „Nein, Alicia, Chile […] wird sich nicht ändern, das wird dauern. Warum entscheiden wir uns nicht für das Asyl?“ „Nein… um Asyl ansuchen…“ Ich wusste, dass um Asyl anzusuchen bedeutete, nie mehr nach Chile zurückzukehren, viele Jahre lang. Denn die exilierten Spanier in meinem Ort [in Chile] träumten das ganze Leben davon, nach Spanien zu kommen, und viele starben währenddessen. Viele blieben, doch sie träumten weiter davon, nach Spanien zurückzukehren.

[Eines Tages sagte mir mein späterer Ehemann:] „Kollegin, denken Sie nicht, dass wir uns um all diese Kinder hier kümmern müssen? Die nicht zur Schule gehen…“ Das war mir noch nicht in den Sinn gekommen, er hatte länger als Lehrer gearbeitet als ich. Und was kann man da tun? Also gehen wir und reden mit Herrn Cidade, dem Chef des UN-Büros für Flüchtlinge, und erklären ihm das Problem. Er sagte uns, dass wir völlig recht hätten und er uns einen Gutschein geben würde, um Kleidung und Hefte zu kaufen. All die Dinge, die die Kinder brauchen würden, brachten wir in die Schule. Die Mädchen und Buben waren glücklich, in der Schule zu sein. Die Schule war in der Nähe, und so brachten wir sie in der Früh hin, wir warteten dann am Nachmittag auf sie, halfen ihnen bei den Hausaufgaben.

Bei einer Gelegenheit, im März [1975 auf der Flucht in Argentinien], stieg ich aus dem Autobus aus und hatte das Gefühl, dass mir jemand folgte. Etwa drei Tage zuvor hatten sie einen Genossen mitgenommen, er war verschwunden, und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich blickte zurück und es waren die Bullen von Curacautín. Die, die folterten. Und einer sagte mir: „Du entkommst nicht, du entkommst nicht, jetzt entkommst du nicht.“ „Es ist nicht soweit, Arschloch,“ sagte ich ihm. Ich überquerte die Straße bei Rot, ein Auto kam und bremste und der Argentinier sagte mir: „Hurentochter!“ […] Aber klar, sie mussten zurückbleiben wegen der roten Ampel, sie konnten nicht rüber. Ich nützte den Vorteil und sie nahmen mich nicht mit. Aber sie erzählten in Curacautín, sie hätten mich umgebracht. Und die Frau von einem von ihnen erklärte in der Schule: „Endlich haben sie die (Alicia) Luna in Argentinien umgebracht!“ Und die Kolleginnen machten sich daran, Messen lesen zu lassen. Jedes Jahr zu diesem Datum ließen sie eine Messe für mich lesen. [Lacht.] Sie sind katholisch. Aber ich war noch am Leben.
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