Alicia Gladys Luna Sánchez
(verehe­lichte Alicia Peña)

Pensionistin in Wien | Interview geführt von Rayen Cornejo Torres am 7. Juni 2023 in Wien | Transkribiert von Andrés Peña und Marcela Torres | Übersetzung aus dem Spanischen von Berthold Molden

Ich bin Alicia Luna Sánchez. Ich wurde vor 75 Jahren geboren, an einem 4. Juni. […] Ich komme aus dem Süden Chiles, aus der Araucanía, geboren bin ich in Curacautín.
In diesen Jahren war das die Provinz Malleco und ich lebte in Curacautín mit meinen Eltern und besuchte zu dieser Zeit die Escuela Consolidada [Anm.: Volksschule] […]. Dann studierte ich am Liceo Gabriela Mistral de Temuco [Anm.: Gymnasium] und dort schloss ich die Secundaria [Anm.: Mittelschule] ab. Und weil ich ein 48er-Jahrgang bin, gehörte ich zu der Generation, die ständig Veränderungen erlebte. Das Jahr 69 war, glaube ich, das intensivste Arbeitsjahr, sowohl wegen meiner Studien als auch wegen meines [politischen] Engagements. Ich war im Jahr 68 in die Partei eingetreten, ich bin Sozialistin. Das Jahr 68… die Besetzung der Universität, die Streiks […], berühmte Universitätsreformen… Ich trat der Partei bei, aber ich komme aus einer sozialistischen Familie, ich wurde in ein sozialistisches Heim geboren. Mein Vater war sein ganzes Leben Sozialist, er war ein Arbeiter, er war ein Sozialist, er war ein Gewerkschaftsführer. Nun gut, im Mai 1969 begann ich, in Curacautín zu arbeiten.
Und ich erhielt eine Schulklasse da hatte kein Elternteil Arbeit, die Schüler hatten keine Schuhe, und in der Früh kamen sie durchgefroren. Es waren arme Kinder, zwischen zehn und zwölf Jahre alt ungefähr, weil sie immer wieder wiederholen mussten. Es war wirklich traurig, diese Klasse, aber: Der erste Eindruck war diese Traurigkeit; der zweite war das Gespräch mit den Eltern, mit jeder Familie, um die Realität jedes Kindes zu sehen.
Es gab einen einzigen [Buben], dessen Vater war Möbeltischler und lebte in etwas besseren Verhält­nissen, und ein kleines Mädchen, dessen Vater mit meinem Schwager in der Druckerei arbeitete. Ich glaube, das waren diese beiden. Aber es waren 30, die übrigen 28 hatten nichts. Nun gut, ich organisierte mich so, dass ich diese Gruppe Kinder zum Schul- und Stipendienhilfsbüro brachte, weil ich wusste, dass sie [dort] Schürzen, Schuhe, Pullover und so weiter hatten, nicht wahr? Innerhalb einer Woche hatte ich also alle Kinder soweit, sie hatten Hefte, Schuhe, einige von ihnen hatten noch nie ein Paar Schuhe gesehen.
Und in der Tat kam der sehnlich erwartete 4. Sep­tem­ber 1970. Es war das erste Mal, dass ich wählte, und ich war zur Vorsitzenden der Wahltische bestimmt […].

Früher hatten die Genossen und Genossinnen nur sehr geringe Bildung. Man kannte mich schon sehr gut in dieser ländlichen Gegen, verschiedenenorts und [nicht zuletzt] in der Jugend von Malleco. Naja, wir waren müde vom Warten auf den Triumph und ich ging schlafen. Da bemerke ich plötzlich einen anderen Freund am Fenster: „Alicia, wir haben gewonnen! Alicia, steh´ auf, Alicia!“ Ich ziehe mich schnell an und laufe auf die Straße und [da ist] mein Vater mit der Fahne der Sozialistischen Partei.
Anmerkung zur Parteifahne: Denn die Partei war illegal gewesen während früherer Regierungen von Videla und Ibañez. Die Sozialisten und Kommunisten waren illegal und mein Vater hatte auch kein Wahlrecht. Und als die Ibañez-Regierung das sogenannte „Permanente Demokratie-Gesetz“ abschaffte, kam mein Schwager aus Temuco zu meinem Vater und sie holten die Parteifahne heraus. Ich wusste davon nichts, ich war noch ein Kind… Denn sie war hinter der Haustüre [versteckt]. Und sie umarmten einander und sprangen mit der Fahne herum und sangen die Parteihymne. Und von da an hatten sie wieder das Wahlrecht. Die Woche zuvor hatten wir eine Versammlung abgehalten und es war kaum ein Straßenblock an Menschen. Und an diesem Tag des Triumphs marschierten sie mindestens zwanzig Blocks lang, und da sah ich mich um und sagte: „Wie viele sind wohl nur dabei, um zu zerstören?“ Denn viele Leute, die mitgingen, hatten nichts mit Allende zu tun, sondern hängten sich an den Sieg an. Und mein Schwager, der wirklich großen politischen Durchblick hatte, sagte mir, als ich ihn zufrieden umarmte – er war bereits sehr krank –, da sagte er mir: „Alicia, aber das wird nicht von Dauer sein, das wird nur kurz halten, ein Paar Schuhe wird bis zu 10.000 Escudos kosten, ein Zentner Mehl auch. Die Rechte wird nicht ruhig halten, sie wird nicht ruhig halten. Die Regierung muss verteidigt werden. Und wenn sich die Dinge zum Schlechten drehen… du steckst tief drin, ich weiß, dass du tief drinsteckst, du hast dich sehr in die Politik gemengt, so oft haben wir dir gesagt du sollst es nicht tun: Aber du hast es getan. Nimm meine ganze Familie mit dir, geh ins Asyl!“ Und ich sagte mir, er wird wieder krank, weil er bereits psychiatriert worden war für fast ein Jahr. Und jetzt wird er wieder krank. Ich glaubte ihm nicht, ich glaubte ihm nicht.
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