VIENA CHILENA  73|23

Demonstration in Wien gegen die Diktatur von Augusto Pinochet in Chile, September 1975, Fotograf: Fritz Kern © ÖNB

Kinder erhalten Geschenke, Wien 1974, Foto: Privat

Viena Chilena – Leben und Erinnerung der chilenischen Diaspora in Wien seit 1973

Ein Archiv und eine virtuelle Ausstellung dokumentieren die Erinnerung an das Exil und Migration

Diese Website ist der Geschichte der chilenischen Community gewidmet, die seit 1973 in Wien und Österreich Zuflucht vor der Verfolgung durch die chilenische Militärdiktatur gefunden hat. Die Website präsentiert historische Erinnerung aus erster Hand, in Wort und Bild, und in zwei Formaten: einem Online-Archiv und einer virtuellen Ausstellung. Ausgangsmaterialien sind sowohl lebens­geschichtliche Gespräche mit 14 Frauen der chilenischen Diaspora in Wien als auch die im Rahmen des Projektes „Viena Chilena 73/23“ von der chilenischen Community übermittelten Fotos, Dokumente und weiteres historisches Bildmaterial.

„Viena Chilena“ (Das chilenische Wien) ist ein Ausdruck kollektiver Selbstermächtigung. Der Sichtbarmachung von Verborgenem. Zeitzeuginnen ergreifen das Wort und erzählen ihre Geschichte. Die Erfahrung von Flucht und Ankunft, Hilfe und Zurückweisung, Verlust und Neuanfang. Eine Geschichte des Exils und der Migration in all seinen Facetten. Die Initiative für diese partizipative Samm­lungs­arbeit ging von Mitgliedern der chilenischen Gemeinschaft selbst aus, das Projekt wurde vom Historiker Berthold Molden entwickelt und in Kooperation mit Forscher_innen und Künstler_innen verwirklicht.

Die Familie Alarcón, Concepción 1964, Foto: Privat
Ausweis des UNHCR-Programms für Familienzusammenführung, Santiago 1976, Foto: Privat

Ausweis des UNHCR-Programms für Familienzusammenführung, Santiago 1976, Foto: Privat

Einerseits wird das historische Material im Online-Archiv der chilenischen Exil-Erinnerung zugänglich gemacht und so in die Wiener Erinnerungslandschaft eingeschrieben. Diesem neuen Archiv dienen als Grundstock seines Bestandes die 14 lebens­geschichtlichen Gespräche und andere Dokumente, die im Rahmen von „Viena Chilena 73/23“ gesammelt wurden. Mitglieder der chilenischen Community trafen unter anderem in Jornadas de Memoria (Workshops der Erinnerungsarbeit), zusammen, um dokumentarische Spuren des Exils zu sichern und ihre Bedeutungsaufladung im Gespräch zu erfassen. Neben drei Generationen aus der Gruppe des politischen Exils wurden auch Frauen interviewt, die seit 1990 aus verschiedenen persönlichen Motiven nach Österreich gekommen sind. Das Archiv ist „lebendig“ und offen und soll – getragen vom Verein zur Förderung der österreichisch-chilenischen Erinnerungs­kultur – künftig immer mehr Spuren der chilenischen Geschichte in Wien und Österreich dokumentieren.

Andererseits sind die biographischen Gespräche auch das wichtigste Ausgangs­material für die virtuelle Ausstellung, die Einblicke in diese Geschichte gewährt – eine vielschichtige Geschichte voller Träume, Ängste und Hoffnungen, Erwartungen und Überraschungen, Trennungen und Begegnungen. Historische Forschung wird zur künstlerischen Praxis, und so ermöglicht die Ausstellung durch ihre erzählerische Strategie, ihre Zusammen­stellung und zusätzliche historische Quellen, sich der Erfahrung des Exils und der Migration anzunähern.

Hungerstreik im Amerlinghaus, Wien 1979, Fotograf: Fritz Kern © ÖNB
Demonstration in Wien gegen die Diktatur von Augusto Pinochet in Chile, September 1975, Fotograf: Fritz Kern © ÖNB

Historischer Hintergrund: Der 11. September 1973 und seine Folgen

Der 11. September 1973 ist ein Schlüsseldatum in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Militärputsch beendete die demokratisch gewählte Regierung in Chile. Drei Jahre lang hatte der Sozialist Salvador Allende mit seinem linken Parteienbündnis „Unidad Popular“ versucht, Chile auf einen demokratischen Weg zum Sozialismus zu führen. Bei allen Schwierigkeiten – ausgelöst nicht zuletzt durch das Wirtschaftsembargo der USA – gelangen viele wichtige Projekte wie die Verstaatlichung des Kupferbergbaus sowie Agrar-, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialreformen, die breiten Gesellschaftsschichten zugutekamen.

Menschen in aller Welt beobachten dieses nationale Projekt voller Hoffnung, zumal gerade in Lateinamerika immer mehr blutige Diktaturen und Bürgerkriege die Wirklichkeit des Kalten Krieges verkörperten. Sie wurden brutal enttäuscht: Unterstützt von der CIA und dem westdeutschen Bundesnachrichtendienst, setzte der Staatsstreich auch der chilenischen Demokratie ein Ende. General Augusto Pinochet richtete eine Militärdiktatur ein, die Tausende Chilen_innen Leben, Freiheit und Unversehrtheit kosten sollte. Präsident Allende selbst überlebte den Putsch nicht.

Venceremos! - Spendet der Chile-Solidaritätsfront, Wien 1974 © ÖNB

Solidarität mit Chile - Lieder des Chilenischen Volkes, Wien 1974 © ÖNB

Chile Ausstellung in der Unterführung Schottenring, Wien 1974, Fotograf: Fritz Kern © ÖNB

Zum Verlauf des chilenischen Exils

Tausende Chilen_innen fielen dem Putsch und der Pinochet-Diktatur zum Opfer, wurden ermordet, gefoltert, von ihrem Arbeitsplatz entlassen und / oder ins Exil getrieben. Man vermutet, dass etwa 200.000 das Land verlassen mussten, darunter ganze Familien, die einer vertriebenen Mutter, einem verbannten Vater oder einer Partnerin in die Fremde folgten. In Österreich erhielten wohl ungefähr 1.500 von ihnen politisches Asyl. Hier fanden sie sich zunächst in Flüchtlingslagern und Aufnahmezentren wieder, lernten Deutsch und begannen zu arbeiten, die Kinder besuchten die Schule. Viele Menschen in Österreich zeigten sich sehr solidarisch und wurden zu wichtigen Freund_innen, die den Einstieg in das neue Leben erleichterten und anderen die Flucht vor dem Terror-Regime ermöglichten.

Zumindest anfangs war die Hoffnung groß, bald in ein wieder demokratisches Chile zurückkehren zu können. Doch die Pinochet-Diktatur währte 17 Jahre lang und veränderte das Land grundlegend. Während die Vertriebenen in Österreich die Aufbruchszeit der Kreisky-Regierung und deren Folgejahre erlebten, wurden in Chile das Bildungs- und das Sozialsystem per neoliberaler „Schocktherapie“ privatisiert und zugrunde gespart. Selbst als daher eine Rückkehr wieder ohne Gefahr für Leib und Leben möglich war, führte sie die Exilierten in ein anderes Land, in die Ferne gerückt durch jahrzehntelange eigene Abwesenheit und erschütternde Veränderungen der chilenischen Gesellschaft.

Der Neue Mahnruf, Heft 9, 1974 © ÖNB

Ausweis des Flüchtlingslagers Traiskirchen / Flüchtlingsheim Reichenau a/d. Rax 1977, Foto: Privat

Sofia Gonzalez Barias und ihre Kinder Marisel und Jorge Orellana bei der Abreise ins Exil, Santiago 1978, Foto: Privat

In Öster­reich war, wie in all den anderen Orten des Exils, inzwischen eine weitere Generation der chilenischen Diaspora herangewachsen, die so gut Österreichisch sprach wie Chilenisch und in zwei Welten zuhause war. Oder eine ganz neue geschaffen hatte. Heute sind es mindestens drei Generationen, und seit 1990 sind auch viele Chilen_innen hinzugekommen, die nicht unbe­dingt aus politischen, sondern persönlichen Gründen hierhergelangt sind.

Unser Dank gilt allen Wegbegleiter_innen für ein freies demokratisches Chile und eine bessere Zukunft.

Unser Ziel ist es einerseits, den Wiener Chilen_innen selbst einen Ort der kollektiven Erinnerung zu schaffen. Und andererseits, diese Geschichte auch den anderen Mitbürger_innen zugänglich zu machen und sie in der Wiener Erinnerungslandschaft sichtbar zu machen.